Haus JRG in Ramstein

„Der Name der Ortschaft Ramstein, zwanzig Kilometer westlich von Kaiserslautern gelegen, wird bis heute mit der Flugschau am 28. August 1988 verknüpft, bei der drei italienische Kampfjets während einer Kunstflugfigur außer Kontrolle gerieten und 70 Menschen in den Tod rissen. Das Inferno hat den Ort schlagartig weltberühmt gemacht. Wenn auch auf der US-Airbase Ramstein keine öffentlichen Flugprogramme mehr stattfinden, so gibt es noch immer genug Gelegenheit, fliegendes Kriegsgerät zu beobachten. Je nach weltpolitischer Lage donnern in unterschiedlichem Takt Maschinen über die Gemeinde, schnelle kleine und große schwere. Die Kleinstadt (rund 9200 Einwohner) ist mit dem Flugplatz verwachsen, er beherbergt das Hauptquartier der US-Luftstreitkräfte in Europa und das Oberkommando der Alliierten Luftstreitkräfte Nordeuropa (AIRNORTH) – in Zahlen ausgedrückt: 1600 deutsche Zivilbeschäftigte, 8200 Soldaten mit 15.000 Familienmitgliedern.

Am Boden hat man sich eingerichtet. So gewohnt das allgegenwärtig Militärische für die Menschen vor Ort ist, so befremdlich wirkt das alles auf den unvorbereiteten Besucher, dem hier atemberaubend deutlich gemacht wird, wie die Pfalz mit Kabul oder Bagdad zusammenhängt. Manche Einwohner versuchen sich ihre Normalität herbei zu dekorieren: Kataloghäuser, Stahlbeton-Säulchen, Gips-Baluster, versprosste Gaubenverwirrungen. Wer solcherlei ablehnt, kann Probleme mit den kommunalen Aufsichtsgremien bekommen. So wurde der erste Entwurf für das Wohnhaus der Familie im örtlichen Bauausschuss mit 27:0 Stimmen abgelehnt, weil er ein Pultdach vorsah, wo doch nur Satteldächer mit einer Neigung zwischen 22 und 35 Grad erlaubt sind. Die Architekten Dirk Bayer und Andrea Uhrig kennen solche Reaktionen bereits aus vergleichbaren Bauvorhaben und sie besitzen die Gelassenheit, um Regelwerke soweit auszuloten und umzuschmieden, dass der Bauherr ein unverwechselbares Einzelstück erhält, welches eine Geschichte erzählt und – nicht zuletzt – die Realität mit einem gewissen Witz auf den Punkt bringt. Das Grundstück ist 691 Quadratmeter groß und liegt am Wendehammer einer Erschließungsstraße. Es war der letzte freie Bauplatz im Wohngebiet, von schwierigem Zuschnitt und nur in seinem südlichen Teil bebaubar; an der Nordseite führte ein Trampelpfad zur Bushaltestelle, der unbedingt erhalten bleiben musste. Die Architekten gingen unter Einhaltung der vorgeschriebenen Abstandsfläche bis auf drei Meter an die Grundstücksgrenzen heran und markierten so das größtmögliche Baufeld. Das darüber imaginierte satteldachbekrönte Maximalvolumen subtrahierten sie dann wieder so weit, dass es die GFZ von 0,22 erfüllt. Durch den Einschnitt an der Südseite ist ein von zwei Flügeln umschlossener Hof entstanden, und wenn man so will, hat man es heute mit drei zusammengesetzten Teilen zu tun, die je ein Pultdach besitzen.

Doch ging es hier gar nicht um Spitzfindigkeiten und erst recht nicht um die Provokation. Die Architekten haben sich die Nachbarbebauung lediglich genau angesehen und das, was dort zu sehen ist, ernst genommen. Als Anregung haben sie erwartungsgemäß nicht das Dekorgeschmeiß aufgegriffen, sondern Anleihen bei den gewöhnlichen, den leicht zu übersehenden, den nicht gestalteten Elementen ringsum genommen: hier die schlitzartigen Kellerfenster (übersetzt in das kryptische Oberlichtband an der Eingangsfront); dort ein Faserzementplattengiebel mit winzigen Lüftungslöchern (was sich in den abgeschotteten Straßenfronten widerspiegelt); da die traditionellen Sandsteineinfassungen an den alten Häusern (sie inspirierten zu den grau gestrichenen Putzrahmungen der Fenster). Das neue Haus – und das ist seine öffentlich wirksame Leistung – weist auf die Existenz und die sublime Gestalt all dieser merkwürdigen „Un-Details“ in der Umgebung überhaupt erst hin. Betritt man das Haus, steht man sogleich wieder im Freien. Dieser durchaus verblüffende Effekt verdankt sich der großflächigen Verglasung zum Hof, wodurch die Gebäudeorganisation auch ohne Kenntnis des Grundrisses sofort erkennbar wird: nach links zum „Wohnen“, nach rechts zum „Schlafen“. Ist der Grundriss vor dem Besuch bekannt, fragt man sich vielleicht, ob das offene Gegenüber von Kinder- und Wohnzimmer nicht irgendwann zu Problemen führen muss, ebenso wie die Nähe zum südlichen Nachbarn. Letzteres soll in Zukunft eine dichte Bepflanzung lösen, zu Ersterem, der internen Abstandsregel, gibt es folgende Geschichte: Als das Haus schon hüfthoch gemauert war, kündigte sich überraschend das zweite Kind der Familie an. Eine Umplanung ohne Mehrkosten war gefordert. Man ließ also in dem zwischen Kinder- und Elternschlafzimmer gedachten Arbeitsraum einfach die Zwischendecke weg und widmete den im Spitzgiebel vorgesehenen Speicher zur zweiten Wohnebene um; ein noch zu bauendes Schrank-Treppenmöbel wird den Zugang legen. Diese Spontan-Erweiterung erklärt das Fensterchen an der Straßenseite. Ganz unversehens erhielt das Haus auf diese Weise nicht nur eine zusätzliche, sondern auch noch eine intimere Raumalternative für den Nachwuchs, dessen Bedürfnis nach Nähe je nach Lebensalter erheblich schwanken kann. Der „verlorene“ Arbeitsraum findet sich jetzt über der Küche wieder und hält den Kontakt durch einen enigmatischen Fensterschlitz.

Die Raumhöhe, gut fünf Meter sind es bis zum First, überhöht den Wohnraum zu einer kleinen Kapelle, protestantisch allerdings wegen der weißen Putzwände. Die gestärkte Vertikale lässt die Nutzfläche kleiner wirken, als sie tatsächlich ist. Verglichen mit konventionellen Grundrissen gibt es zudem einen hohen Anteil an Erschließungsfläche, die der offene Patio mit sich gebracht hat und mit der der herkömmliche Eigenheimer seine Schwierigkeiten hätte. Da der jedoch hier nicht wohnt, erwartet die Familie freudig die warme Jahreszeit, in der die Wege wieder kürzer werden, weil dann der Hof zwanglos und selbstverständlich in das Haus integriert werden kann. An das Gedröhn am Himmel haben sich ja alle längst gewöhnt.“

aus: Bauwelt 10/2004 Text: Nils Ballhausen

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